QM-Forum › Foren › Qualitätsmanagement › Wann ist ein Lot ein Lot?
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Hallo liebe Leute,
ich hab‘ mal eine Frage zur DIN ISO 2859-1. WIr arbeiten hier im Bereich Medizinprodukte/In-vitro-Diagnostik. Konkret geht es um ein flüssigformuliertes Produkt, dass als letzter Arbeitsschritt vor der abschließenden Qualitätskontrolle abgefüllt wird. Den Abfüllungsprozess als solchen nach DIN ISO 2859-1 zu kontrollieren (also ist das Gefäß gefüllt? Ist das Etikett richtig?) ist kein Problem. Die entscheidende QC für die Freigabe ist aber zerstörend und aufgrund nicht beliebig verfügbarer Referenzmaterialien schwierig. Die potentiellen Fehlerquellen würden wir durch die oben genannten Prüfungen auch schon angehen. Muss ich für die Freigabe auch die DIN ISO 2859-1 anwenden?
schöne Grüße,
nonvolioHallo Nonvolio,
mal für mich als Nicht-Medizinmann:
Wie passt der Betreff zur Frage???
Gruß
Evereve99
„Hast Du die ganzen Ausrufezeichen bemerkt? Fünf? Ein sicheres Zeichen für jemanden, der seine Unterhose auf dem Kopf trägt.“
– TERRY PRATCHETT, MUMMENSCHANZWohl nicht mehr so viel… das liegt daran, dass sich meine Frage während des Stellens geändert hat :)
Kann mir jemand weiterhelfen?schöne Grüße,
NonvolioServus,
Die DIN 2859 definiert Annahmestichprobenprüfungen (AQL) für attributive Merkmale. Ich halte es für ungeschickt, eine Endproduktprüfung auf diese DIN aufzubauen, es ist jedoch möglich.
Vorzugsweise wäre der Herstellprozeß zu qualifizieren und auf meßbare, kontinuierliche Merkmale zu setzen (z. B. Füllhöhe zwischen 30,00 und 32,50 mm). Über statistische Prozeßlenkung läßt sich das Produkt dann auch freigeben.
Die DIN 2859-1 (oder -0) zeigt im hinteren Teil auch Graphen für die Wahrscheinlichkeiten irrtümlicher Freigabe (Annahme / Lieferantenrisiko). Ihr solltet euch die entsprechenden Fehlerraten heraussuchen und dann die Freigabe nach 2859 noch mal überdenken.
Um auf deine Frage zurück zu kommen: Ja, es geht.
mfg Rainaari
Hallo Clemens,
willkommen im Qualitäter-Forum :)
Und gleich mal eine Frage, die was mit Statistik zu tun hat, sehr schön!
Wie Rainaari schon geschrieben hat ist es möglich, die 2859-1 anzuwenden. Es gibt hier nur einige klitzekleine ABERs:
1. Das Risiko der Nicht-Entdeckung (OC-Kurve, Lieferantenrisiko) ist bei der AQL-Prüfung vorgegeben und liegt je nach AQL-Wert bei bis zu 80% oder auch darüber (s.u.) Du hast damit u. U. auch bei völlig korrekter Anwendung der Norm so gut wie keine Chance, fehlerhafte Chargen zu finden.
2. Die Festlegung des AQL-Wertes nach den Kriterien der Norm (=nehmen Sie einen Wunschwert, auf keinen Fall den tatsächlichen Prozess-Ausschusswert) beißt sich
a) mit dem gesunden Menschenverstand (statistische Absicherung und wünsch-Dir was sind inkompatibel) und
b) mit den FDA-Anforderungen, die eine Festlegung der Ausschussrate bzw. des AQL-Werts auf Basis von echten Messdaten fordern (womit sie aus statistischer Sicht auch Recht haben).3. Je besser der Prozess ist, desto schwieriger wird es mit einer attributiven Prüfung nachzuweisen, dass die Qualität gut geblieben ist. Das führt vielfach zu 100%-Prüfungen, was bei einer zerstörenden Prüfung keine wirkliche Option ist.
4. Für die Festlegung, wie viele Teile ein Los sind bzw. wie groß der Losumfang ist, gibt es häufig keine vorgegebene Zahl, deshalb muss sorgfältigst überlegt werden, ob und wenn ja wie die produzierten Teile in Lose eingeteilt werden können.
5. Eine mathematische Begründung für die verschiedenen Prüfniveaus (so etwas wie „bei verschärfter Prüfung reduziert sich das Lieferantenrisiko um x%“) hab ich trotz intensiver Suche bis heute nicht finden können. Die Prüfniveaus scheinen daher eher aus dem Bauch heraus festgelegt worden zu sein (auch das spricht ein bisschen gegen eine echte Absicherung).
Um mal ein Beispiel zu geben, wie hoch das Risiko für Nicht-Entdeckung sein kann bzw. wie groß der Stichprobenumfang für die statistische Absicherung sein muss, nehmen wir einfach mal an, dass Ihr einen Losumfang von N=200 habt.
Damit ergibt sich nach 2859-1 mit Tabelle 1 für das allgemeine Prüfniveau der Kennbuchstabe G. Tabelle 2a liefert dann für einen AQL-Wert von 1,0 (=1% Ausschuss ist annehmbare Qualitätsgrenzlage) einen Stichprobenumfang von n=50. Nehmt Ihr einen kleineren AQL-Wert, z. B. 0,1 (=0,1% Ausschuss ist annehmbar), steigt der Stichprobenumfang auf n=1250 an und entspricht bei einer Losgröße von N=200 einer 100%-Prüfung.
AQL = annehmbare Qualitätsgrenzlage bedeutet, dass dieser Ausschusswert (z. B. 1%, 0,1%) für Euch akzeptabel ist. Allein die Idee einer annehmbaren Ausschuss-Rate finde ich bei Medizinprodukten immer etwas schwer nachvollziehbar.
Soweit die DIN 2859-1.
In der Statistik funktioniert diese Berechnung anders, denn da gibst Du echte Werte vor. Das Produzentenrisiko (alpha, maximal tolerierbares Risiko für Fehlalarm / Fehler 1. Art) wird meist auf 5% gesetzt.
Das Lieferantenrisiko (beta, maximal tolerierbares Risiko für Nicht-Entdecken / Fehler 2. Art) wird in Abhängigkeit von den Fehlerauswirkungen vorgegeben. Bei Nebenfehlern sind Werte zwischen 10 und 20% üblich, bei Hauptfehlern 5% und bei kritischen Fehlern (=Gefahr für Leib & Leben) 1%. beta <=1% ist deshalb bei Medizinprodukten eine häufige Anforderung.
Einen Losumfang brauchst Du für die Berechnung des Stichprobenumfangs nicht, weil die Formeln unabhängig von der Losgröße angeben, wie viele Informationen (=Anzahl Messwerte oder Prüfergebnisse) für die Absicherung aufgenommen werden müssen.
Nehmen wir mal an Ihr habt herausgefunden, dass Eure Ausschussrate tatsächlich bei 10ppm liegt. Ihr wollt absichern, dass diese Rate maximal drei Mal so groß wird, d. h. Ihr wollt sicher erkennen, wenn die Ausschussrate auf 30ppm oder darüber angestiegen ist.
Mit alpha=5% und beta=1% ergibt sich dann ein notwendiger Stichprobenumfang von
n=760690.
Ups.Da das zu viel ist, wird die zu entdeckende Grenze höher gesetzt. Jetzt soll erst bei 100ppm die Stichprobenprüfung zuverlässig einen Alarm geben, d. h. wenn die Ausschussrate um den Faktor 10 oder noch weiter angestiegen ist. Damit reduziert sich der notwendige Stichprobenumfang für die Absicherung auf
n=100448.
Hm, immer noch echt viel.Wie kann das jetzt sein, dass die DIN 2859-1 mit nur n=50 arbeitet? Was ist der Preis dafür?
Der Preis ist ein extrem hohes beta-Risiko, d. h. ein sehr großes Risiko für Nicht-Entdecken einer schlechten Qualität bzw. einer zu hohen Ausschussrate. Das reale beta-Risiko lässt sich ausrechnen:
p0=10ppm, p1=30ppm, alpha=5%, n=50
-> beta=99,85%
Damit wirst Du mit einer 50-Teile-Stichprobe fast sicher nicht merken, wenn die Ausschussrate auf 30ppm ansteigt.p0=10ppm, p1=100ppm, alpha=5%, n=50
-> beta=99,50%
Du hast also nicht mal eine reelle Chance, eine Verzehnfachung Deiner Ausschussrate durch die Prüfung zu finden.Welche Ausschussrate kannst Du mit n=50 Teilen denn finden? Auch das lässt sich ausrechnen:
p0=10ppm, alpha=5%, beta=1%, n=50
-> p1=8,8% = 87989ppm
Du kannst mit n=50 Prüfergebnissen also zuverlässig einen Anstieg der Ausschussrate auf knapp 90000ppm feststellen.Falls Du selbst mal rechnen (lassen) willst, kannst Du die Freeware GPower verwenden.
Weil die Stichprobenprüfungen nach 2859 (und auch 3951) so wenig mit statistischer Absicherung zu tun haben, ist es empfehlenswert sich mit den statistischen Methoden für die Berechnung von Stichprobenumfängen zu beschäftigen. Immer sinnvoll ist die Verwendung von variablen Prüfmerkmalen anstelle von attributiven, weil der notwendige Stichprobenumfang um ein Vielfaches kleiner ist.
Viele Grüße
Barbara
PS: Manche Firmen finden es unschön, wenn ihre Mitarbeiter solche Fragen in Internetforen veröffentlichen. Da Deine E-Mail-Adresse im Profil öffentlich einsehbar ist (auch ohne Anmeldung), empfehlen wir jedem unter einer anonymen E-Mail-Adresse zu schreiben (z. B. arcor.de, gmx.de, freenet.de, usw.)
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Eine gute wissenschaftliche Theorie sollte einer Bardame erklärbar sein.
(Ernest Rutherford, Physiker)Vielen Dank für die Antworten!
Wir sind auch nicht besonders glücklich mit der DIN ISO 2859-1, leider wird aber in einer Richtlinie bei den Medizinprodukten darauf verwiesen. Eine statistische Methode ist sicherlich sinnvoller. Zu versuchen, unsere QC von attributiv auf quantitativ umzustellen, ist wohl definitiv einen Gedanken wert, allerdings wird das technisch wohl sehr herausfordernd. Der Hinweis mit der FDA ist da aber sehr hilfreich, danke.
Ich glaube, ich muss meine Gedanken dazu noch ein bisschen sortieren. Wenn meine Ideen konkreter werden, weiß ich ja wo ich gute Hilfe bekomme :)weiterhin frohes Schaffen,
NonvolioClemens:
Im Bereich der Medizinprodukte wird keiner gezwungen, AQL anzuwenden, wenn es besser Methoden gibt:
Etiketten können im Prozess zu 100% auf Lesbarkeit geprüft werden. Regelmäßige Stichproben helfen nur bei „sich einschleichenden“ oder systematischen Fehlern; zufällige Einzel-Fehler sind, wie Barbara quantitativ dagelegt hat, nur mit Glück zu finden.
Über eine kleine Freigabe-Nummer auf dem Etikett kann die Identität am Anfang und Ende geprüft werden und dann können nur noch Untermischungen das Ergebnis beeinflussen.
Abfüllung sollte über eine Regelkarte, besser über cmk / cpk Werte qualifiziert / validiert werden. Dann sollte zeitabhängig Stichproben genommen werden, um die „Einschleicher“ zu entdecken und um rechtzeitig in den Prozess eingreifen zu können.
Normen sind übrigens nur Guidance-Dokumente. Und wenn man eine gleichwertige oder bessere Methode anwendet (und dies begründet!), müssen solche bewußt durchgeführten Abweichungen von den Zertifizierern auch bei harmonisierten Normen akzeptiert werden.Viele Grüße
QM-FK
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Don’t think it – ink it.Übrigens – zu Deiner Überschrift.
https://www.zlg.de/index.php?eID=tx_nawsecuredl&u=0&file=fileadmin/downloads/ab/301_0707_A01.pdf&hash=ae857aeb94dddc5aa3c44d7fba90b043″>Hier ist die Antwort.Viele Grüße
QM-FK
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Don’t think it – ink it.Hallo Nonvolio,
welche Richtlinie ist das konkret?
mfg Rainaari
Vor 2007 stand mal in der 93/42/ewg ein Text drin, der die 2859 zwar nicht direkt erwähnt, die Anforderungen entsprachen aber ziemlich genau dem, was die 2859 hergibt (s. z. B. 93/42/ewg Fassung von 2003):
„Anhang IV: EG-Prüfung
6. Statistische Überprüfung
6.3. Die statistische Kontrolle der Produkte erfolgt durch Attribut-Merkmale und beinhaltet einen Stichprobenplan zur Gewährleistung einer Mindestqualität, bei der die Wahrscheinlichkeit der Annahme bei 5% und der Prozentsatz der Nichtübereinstimmung zwischen 3 und 7% liegen. Das Probenahmeverfahren wird auf der Grundlage der harmonisierten Normen gemäß Artikel 5 unter Berücksichtigung der Eigenarten der jeweiligen Produktkategorien festgelegt.“Seit 2007 ist das anderes formuliert und entspricht mehr den heutigen Anforderungen an die Zuverlässigkeit von (Medizin-)Produkten:
„Anhang IV: EG-Prüfung
6. Statistische Überprüfung
6.3. Die statistische Kontrolle der Produkte wird anhand vonAttributen und/oder Variablen vorgenommen und beinhaltet Stichprobenpläne mit operationellen Merkmalen zur Gewährleistung eines hohen Sicherheits- und Leistungsniveaus entsprechend dem Stand der Technik. Die Stichprobenpläne werden auf der Grundlage der in Artikel 5 genannten harmonisierten Normen unter Berücksichtigung der Eigenarten der jeweiligen Produktkategorien festgelegt.“
aus: Richtlinie 93/42/ewg vom 05. September 2007Da die statistischen Methoden zur Berechnung des notwendigen Stichprobenumfangs mathematisch sauber dokumentiert sind, können sie auch als Methoden für die Erstellung von Stichprobenplänen herangezogen werden.
Ansonsten fällt mir keine Medizin-Norm ein, in der explizit die 2859 gefordert ist, aber vielleicht kenn ich die einfach nur nicht.
@Nonvolio: Aus welcher Norm oder Richtlinie hast Du das denn?
Viele Grüße
Barbara
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Eine gute wissenschaftliche Theorie sollte einer Bardame erklärbar sein.
(Ernest Rutherford, Physiker)Hallo, Barbara,
Vielleicht interessiert es Dich:
Mir sind durchaus einige Normen bekannt, die explizit AQL nennen Die meisten davon fordern AQL. Einige davon gelten auch für Medizinprodukte:ISO 10282:2002 (Sterile Handschuhe) bzw.
ISO 11193-1:2008 (Sterile Handschuhe)
sowie eine Reihe weiterer Normen zu Handschuhen und Gummi-Erzeugnissen
EN ISO 1797-1:1997 (Zahnärztliche rotierende Instrumente – Schäfte)
D 3715/D 3715M – 98 (Reapproved 2004) (Quality Assurance of Pressure-Sensitive Tapes)
D 3579 – 77 (Reapproved 2004) (Rubber Surgical Drainage Tubes, Penrose-Type)
ISO 12319:2006(E) (Aerospace — ‚P‘ loop style clamps — Procurement specification)
IN EN 175301-803:2007 (Rechteckige Steckverbinder)
ISO 4074:2002 (Natural latex rubber condoms)
ISO 13412:1997 (Aerospace — Airframe needle track roller)
ISO 23409 bzw. EN 600 (Male condoms)
ISO 9073-xx:2008 (Textiles — Test methods for nonwovens)
EN ISO 11607-2:2006 (Verpackungen für in der Endverpackung zu sterilisierende Medizinprodukte)
DIN EN ISO 15747:2005 (Infusionsgeräte zur medizinischen Verwendung)
DIN 2192 : 2002 (Flat springs – Requirements and testing)
u.a.m.Viele Grüße
QM-FK
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Don’t think it – ink it.Hallo QM-FK,
danke für die gute Liste! Klar interessiert mich das :)
Viele Grüße
Barbara
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Eine gute wissenschaftliche Theorie sollte einer Bardame erklärbar sein.
(Ernest Rutherford, Physiker)Hi,
hab selber noch mal nachgeschaut und muss mich korrigieren: es ist keine Richtlinie, sondern ein Beschluss (?) des EK-Med: ZLG 3.9 B 18, Kapitel 3.2: „Für die Festlegung des Prüfumfangs sind daher mindestens die Anforderungen der DIN ISO 2859-1:2004 zu erfüllen.“ Der Nachweis einer besseren Methode würde dann wohl über den Nachweis von kleinerem Schlupf laufen, oder? Besser = bessere Qualität bei Auslieferung?
beste Grüße,
Clemens@ QM-FK: Vielen Dank für den Link, das hat mir weitergeholfen!
geändert von – nonvolio on 28/07/2011 09:33:48
Beschluss (?) des EK-Med: ZLG 3.9 B 18, Kapitel 3.2: „Für die Festlegung des Prüfumfangs sind daher mindestens die Anforderungen der DIN ISO 2859-1:2004 zu erfüllen.“
Mindestens heißt doch, dass Du etwas besseres (=geringere Risiken für Fehlalarm und/oder Nicht-Entdecken) verwenden darfst.
Besser = bessere Qualität bei Auslieferung?
Nupp. Besser = geringeres Risiko. Du kannst die Qualität nie über eine Prüfung verbessern. Du kannst nur absichern, dass die Qualität in der laufenden Fertigung gut genug ist verglichen mit der zu erwartenden Qualität, egal ob nach AQL oder berechnetem Stichprobenumfang.
Viele Grüße
Barbara
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Eine gute wissenschaftliche Theorie sollte einer Bardame erklärbar sein.
(Ernest Rutherford, Physiker) -
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