Die Kernthese von Charles Darwin zum Thema Evolution lautet sinngemäß: „Es ist nicht die stärkste Spezies die überlebt, auch nicht die intelligenteste, es ist diejenige, die sich am ehesten dem Wandel anpassen kann“. Derzeit befindet sich die Welt in einem schnellen und tiefgreifenden Wandel. Hierzu stellt sich die Frage, welche Anpassungen sind für Unternehmen erforderlich. Ein Schlagwort für die überlebenswichtige Anpassung präsentiert sich in zahlreichen Fachaufsätzen und Konferenzen – Agilität. Fast alle Disziplinen in den Unternehmen schmücken sich inzwischen mit dem Begriff Agilität – deshalb sollte man auch die wichtige Querschnittsdisziplin Qualitätsmanagement hinsichtlich dem Bedarf an (mehr) Agilität näher beleuchten ? Also was kann Agiles Qualitätsmanagement im Zeitenwandel bedeuten und bewirken ?
Sucht man nach einer eindeutigen und allgemeingültigen Definition des Begriffs Agilität im Kontext von Unternehmen oder Wirtschaft, so sucht man vergebens. Viele Synonyme, Eigenschaften, Kennzeichen zu und von Agilität präsentieren sich. Eines haben alle individuellen Definitionen allerdings gemeinsam – der Begriff Agilität ist weitgehend positiv besetzt.
Was bedeutet agil ?
Dominic Lindner publiziert in seinem Blog „Agile Unternehmen“ dass bei der Recherche von Fachliteratur zur Definition von Agilität sieben Aspekte identifizierbar waren, welche häufig mit Agilität in Verbindung gebracht wurden. Diese Aspekte sind in eigenen Gesprächen zum Thema auch immer wieder präsent und sollen deshalb nachfolgend als Grundlage für die Auseinandersetzung mit dem Begriff Agilität dienen.
- Schnelligkeit bedeutet mit raschen Interaktionen auf plötzliche Veränderungen reagieren
- Anpassung bedeutet mit entsprechenden ggf. auch neuen Verhaltens- und Vorgehensweisen auf veränderte Rahmenbedingungen zu reagieren
- Flexibilität bedeutet optimale Einstellung der agierenden Personen auf Anforderungen und Bedingungen
- Dynamik bedeutet mit eigeninitiierter Beweglichkeit und Mut recht- bzw. frühzeitig auf die Umgebung und Umwelt zu reagieren
- Vernetzung bedeutet interdisziplinäres Agieren unterstützt durch direkte, offene Kommunikations-strukturen und Informationswegen
- Vertrauen bedeutet eine partnerschaftliche und verlässliche Arbeitskultur zu pflegen und getroffene Entscheidungen auch zu tolerieren und zu unterstützen
- Selbstorganisation bedeutet mit menschzentrierten, autonom gelenkten Arbeits- und Lernprozesse die gewünschten Ergebnisse anzustreben bzw. zu realisieren.
Allein schon diese sieben Aspekte beim nächsten internen Audit im Fokus zu haben, dürfte in bestimmten Bereichen, Abteilungen und Prozessen das eine oder andere Potential offenbaren.
Warum agiler werden ?
Unsere Welt verändert sich derzeit rasend schnell, klingt vielleicht ein bisschen abgedroschen, so ist es bei konkreter Betrachtung aber nun mal auch. Die Beschreibung dieses intensiven Wandels wird durch ein Akronym beschrieben, der sogenannten VUKA-Welt. Hierbei stehen für VUKA die Begriffe V=Volatilität, U=Unsicherheit, K=Komplexität und A= Ambiguität.
Mit Volatilität wird die Schwankung und Flüchtigkeit bezeichnet, welche sich beispielsweise in den Märkten zeigt, welche sich zukünftig immer schwieriger prognostizieren lassen. Volatilität kennzeichnet unberechenbare, auch instabile Zustände und Situationen mit denen Unternehmen zu kämpfen haben. Mit Unsicherheit wird der Umfang an disruptiver, marktsituationsverändernden Innovationen, Datensicherheit, wie auch politische und gesellschaftliche Veränderungen beschrieben. Unsicherheit bedeutet ein Zustand mangelnder Kenntnisse und breiten Ungewissheiten, welche Risiken für Unternehmen darstellen. Komplexität umfasst Problem- und Aufgabenstellungen, welche nicht durch lineare Kausalitäten, sondern durch systemisch vernetzte Zusammenhänge als schwierig zu bezeichnen sind. Komplexität bedeutet Vielschichtigkeit und Vernetzung zahlreicher Aspekte und erfordert neue Denk- und Arbeitsweisen. Mit Ambiguität wird eine Mehrdeutigkeit beschrieben, welche sich beispielsweise in Daten, den Rollen und Interessenpartnern des Unternehmens beispielsweise zeigen. Ambiguität entsteht, wenn Sachverhalte auf verschiedene Weise interpretiert werden können, womit eine richtige Entscheidungsfindung deutlich schwieriger wird.
Die VUKA-Welt ist keine Horrorvision unserer Zukunft, die VUKA-Welt ist Gegenwart. Feststellbar in vielen Situationen und Gegebenheiten, welche Unternehmen ausgesetzt sind. Sie stellt viele neue und anspruchsvolle Herausforderungen an Unternehmen und bedarf sinnvoller Unterstützung und pragmatischer Lösungsansätze durch klar praktizierte agile Denk- und Arbeitsweisen, sowie agilen Konzepten und Methoden. Agilität ist die organisatorische Antwort auf die aktuellen Veränderungen, auf die VUKA-Welt.
Manifest für agiles Qualitätsmanagement
In 2016 wurde von der DGQ, konkret von Dr. Benedikt Sommerhoff das „Manifest für agiles Qualitätsmanagement“ publiziert. Mit dem Manifest wird eine mögliche Antwort formuliert, auf die zuvor beschriebenen Herausforderungen – der VUKA-Welt. In diesem „Manifest für agiles Qualitätsmanagement“ sind die Prinzipien des „Manifest für agile Softwareentwicklung[1]“ auf das Thema Qualitätsmanagement übertragen. In der Veröffentlichung werden die Grundsätze eines Qualitätsmanagementsystems gemäß der aktuellen ISO 9001 den Grundsätzen eines agilen Qualitätsmanagements gegenüber gestellt.
Die Gegenüberstellung ist ein interessanter Ansatz, bei welchem die Grundsätze der ISO 9001 zu veränderten, neuen Grundsätzen eines agilen Qualitätsmanagement transformiert werden. Die Erläuterung zu diesen Grundsätzen des agilen Qualitätsmanagement[2] soll an dieser Stelle nicht näher erläutert werden. Die Grundsätze betreffen die strategisch, kulturelle Ebene eines Qualitätsmanagement und können als Agiles Thinking, als elementares Rahmenkonstrukt eines Qualitätsmanagementsystems, als unternehmensweites Agiles Mindset verstanden werden.
Der Weg zum agilen Qualitätsmanagement
Die Transformation eines aktuellen, existenten Qualitätsmanagements zu einem zukünftigen, agilen Qualitätsmanagement ist als ein evolutionärer Prozess zu verstehen und zu praktizieren. In revolutionäre Art „den agilen Schalter umzulegen“ führt eher zu Irritationen als zur erfolgreichen Mitnahme der Menschen in den Unternehmen.
Der Weg zum agilen Qualitätsmanagement ist geprägt von der Berücksichtigung der nachfolgenden Prämissen und den individuellen und kollektiven Einstellungen bzw. Verhaltensweisen der Akteure und der Betroffenen. Diese Prämissen sind dabei nicht unabhängig voneinander zu sehen, sondern sind vernetzt und in gegenseitiger Wechselbeziehung stehend, was eine gewünschte Transformation leider nicht einfacher macht.
Stakeholder-Orientierung
Stakeholder-Orientierung bezieht die Interessenpartner zum Qualitätsmanagement – Kunden, Mitarbeiter, Lieferanten, Gesellschafter und Gesetzgeber – in das unternehmerische Handeln in intensiver und direkter Weise ein. Kommunizieren und Zusammenarbeiten auf Augenhöhe, wie auch empathisches, gemeinsames Wirken ist ein Schlüssel um die Stakeholder-Beziehungen zu fördern und die angestrebten Ergebnisse zu erreichen. Wahre und aktive Partnerschaft ist der Erfolgsfaktor der Stakeholder-Orientierung.
Ergebnis-Orientierung
Ergebnis-Orientierung bezieht sich auf die gemeinsame Arbeitsdurchführung. Meist sind in heutigen Qualitätsmanagementsystemen die organisatorischen Regelungen tätigkeitsorientiert festgelegt. Diese Art der Regelungen reduziert die eigentlich benötigten Freiheitsgrade in der Arbeitsdurchführung zum Teil in erheblichem Maße. Agiles Qualitätsmanagement bevorzugt ergebnisorientierte Regelungen, welche das zu erbringende Ergebnis skizzieren bzw. formulieren. Den Weg dahin, also die Arbeitsdurchführung aber weitgehend den jeweiligen Verantwortlichen und Durchführenden freilassen. Grundsätzlich unterstützt die Ergebnisorientierung gegenüber der Tätigkeitsorientierung auch verstärkt kreative Potentiale. Dies zeigt sich heute schon darin, dass kreativ arbeitende Mitarbeiter ergebnisorientierte Regelungen favorisieren. Sich an Ergebnissen anstatt an Tätigkeiten zu orientieren, bedeutet eine grundsätzliche Veränderung von prozesshaften Arbeiten hin zum projekthaften Arbeiten. Hierzu hat die „Agile Community“ auch entsprechende Methoden wie beispielsweise SCRUM oder Design Thinking im Angebot.
Gestaltungs-Optimismus
Gestaltungs-Optimismus bezieht sich auf ein mutiges und auch interessiertes, experimentelles Auftreten und Handeln. Ausprobieren ist innerhalb bestimmter Leitplanken und überschaubaren Risiken durchaus erlaubt. Traditionelles darf und sollte auch hinterfragt werden und bei Bedarf oder / und erkannten nutzbringenden Möglichkeiten auch neu oder anders gestalten werden. Gestaltung benötigt die aktive Förderung durch Führungskräfte, da Neues oder Veränderung zu gestalten nicht immer auf den ersten Wurf ein Erfolg wird und ggf. iterative Runden zur Optimierung erforderlich sind. Gestaltungs-Optimismus betrifft das Erproben neuer Ansätze und Wege. Das bedeutet, dass Führungskräfte neben Mut auch Geduld brauchen und diese auch den „Gestaltern“ zu gestehen. Es benötigt die Sicht- und Denkweise von „halb vollen Gläsern“ anstelle von „halb leeren Gläsern“, wie sie bei pessimistischen, entscheidungsverweigernden Grundeinstellungen nicht anzutreffen sind.
Veränderungs-Bereitschaft
Veränderungs-Bereitschaft bezieht sich auf das konsequente Initiieren und Umsetzen von Veränderungen. Traditionen und Rituale, Prozeduren und Verfahren sollten kritisch reflektiert werden und neue Konzepte, Mittel und Ansichten wahrgenommen und erprobt werden. Veränderung erfordert Handeln und Handeln benötigt eine ausreichende Handlungskompetenz, womit man wieder auf den Aspekt des Vertrauens kommt. Eigenverantwortung für das eigene Handeln ist nicht zwangsläufig gelebte Unternehmenskultur in streng hierarchischen, konservativen und traditionellen Organisation und Führungsstrukturen.
Integrations-Bereitschaft
Integrations-Bereitschaft bezieht sich auf vorhandenes, ganzheitliches Denken und Handeln. In vielen Bereichen herrscht noch das alte Weltbild des Isaac Newton, basierend auf mechanistischen Kausalitäten, auf die nachvollziehbare Logik von Ursache und Wirkung. In der VUKA-Welt, welche zunehmend komplexer ist und wird, stößt dieses Weltbild heute an Grenzen. Systemisches und integratives Denken und Verstehen wird mehr und mehr benötigt, um die gesetzten Ziele zu erreichen. Systemisches Denken ist dabei eine fachübergreifende Art zu denken und unterscheidet sich von dem fachspezifischen Denken, die im Unternehmensalltag, auch insbesondere im Qualitätsmanagement, noch weit verbreitet ist.
Nachhaltigkeits-Wille
Nachhaltigkeits-Wille bezieht sich auf das Erkennen von Chancen und Möglichkeiten, von Potentialen und möglichem Nutzen. Nachhaltigkeit ist auch bestrebt Verschwendung und Verluste dauerhaft zu eliminieren, was ja grundsätzlich schon zu den Kernabsichten des Qualitätsmanagements gehört. Agiles Qualitäts-management konzentriert sich dabei allerdings nicht nur auf die üblichen produktiven Bereiche im Unternehmen, sondern fokussiert auch beispielsweise administrative Bereiche an. Ebenso ist nicht nur die Shopfloor-Ebene der Suchraum für Nachhaltigkeit, sondern die gesamte hierarchische Aufbauorganisation, bis hin zu Führungs- und Managementfunktionen.
Fazit
Es stellt sich für Unternehmen eigentlich nicht die Frage ob oder ob nicht die Zukunft des Qualitätsmanagement dem agilen Qualitätsmanagement gehört. Es stellt sich eher die Frage, wo und wieviel Agilität im Qualitätsmanagement sinnvoll ist, positive Effekte und nützliche Benefits bietet und wo Erprobtes und Bewährtes durchaus vehement beibehalten werden soll.
Es gibt nicht das standardisierte agile Qualitätsmanagement „von der Stange“, es gibt nur das individuelle, zum Unternehmen jeweils passende agile Qualitätsmanagement.
Die verantwortlichen Führungskräfte sollten die Verantwortungen und Aufgaben des Qualitätsmanagements unter Berücksichtigung der oben aufgeführten Aspekte und oben beschriebenen Prämissen hinterfragen, ggf. durch ein systematisches Assessment und entsprechend der gewonnenen Erkenntnisse handeln und anpassen. Nicht überhastet, aber dennoch konsequent.
Hilfreich an dieser Stelle können die Worte des Lyrikers Dieter Gropp sein, der sagte: „Der Erfolg kommt selten vom MÜSSEN, sondern eher vom WOLLEN“.
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